Die blinden Flecken der Wirtschaftstheorien

Hinsichtlich des Themenschwerpunkts Migration möchte ich auf die von Bernd Senf herausgearbeitet Schwäche in Außenhandelstheorie hinweisen, welche im Video bei ungefährMinute 9:00 erkläre.

Frei übersetzt von Barbara Michel-Alvarez

Der Inhalt des Videos wurde von Bernd Senfs Buch: Die blinden Flecken der Ökonomie. Wirtschaftstheorien in der Krise, inspiriert.

Physiokratie oder Physiokratismus ist eine von François Quesnay im Zeitalter der Aufklärung (ausgehendes 17., beginnendes 18. Jahrhundert) begründete ökonomische Schule deren Hypothesen die Annahme zugrunde liegt, dass alleine die Natur Werte hervorbringe und somit Grund und Boden der einzige Ursprung des Reichtums eines Landes sei.

Zur damaligen Zeit war die gesamte Weltbevölkerung kleiner als heute die Bevölkerung Indiens, die Beziehung zur Natur daher eine fundamental andere als heute. Das Thermometer war gerade erst erfunden, die Herrscher des feudalistischen Systems regierten noch von „Gottes Gnaden“ und besaßen alles, Ländereien wie Menschen.

Doch der Feudalismus ging langsam seinem Ende entgegen, die ersten Schösslinge eines kapitalistischen Systems begannen zu keimen.

In der frühen Schule der Physiokratie ging es vorerst primär um die freie Preisgestaltung, was den Weg zum freien Verkauf auf dem Markt öffnete (anstatt alle Erträge wie bisher dem Grundbesitzer abliefern zu müssen).

Es erfolgte auch eine Veränderung in Bezug auf Grund und Boden, man war nicht mehr alleiniger Arbeitssklave des Großgrundbesitzers, sondern konnte ein Stück Land pachten, wofür man zwar bezahlen musste, der Ertrag blieb aber nun im Besitz des Pächters und dieser konnte darüber frei verfügen und einen Preis, abgestimmt auf die Gegebenheiten des Marktes, festlegen.

Die Leibeigenschaft war somit offiziell (in den meisten Ländern, nicht z.B. in Ungarn, da dauerte die Leibeigenschaft bis in die Zwischenkriegszeit, was der kommunistischen Bewegung großen Zulauf bescherte; Anm. der Übersetzerin) beendet, der Kapitalismus eingeläutet. Es stellte sich heraus, dass freie Menschen/Arbeiter produktiver waren als Leibeigene.

Blinde Flecken: Nichtsdestotrotz war die Auffassung der Schule der Physiokratie eine sehr enge, im Grunde genommen wurde das feudalistische System mit anderen Vorzeichen weitergedacht. Der Grundbesitz war weiterhin in den Händen der Großgrundbesitzer, mit dem Unterschied, dass die Menschen für ihr Stück Land bezahlten und die Erträge bzw. was davon übrigblieb, nun selbst vermarkten durften. Der Handwerkerstand (Mittelstand) galt als unproduktiv und man war weiterhin blind gegenüber der Ausbeutung durch die Feudalherren. Die Frage nach dem (Land-) Besitz wurde nicht gestellt.

Bürgerlicher Liberalismus:

19. Jahrhundert, Adam Smith und Jean-Baptist Say waren die beiden größten Denker dieser Schule, die Weltbevölkerung war mittlerweile auf 770 Millionen angewachsen, der Kapitalismus hatte sich mehr und mehr etabliert. Erstmals wurden wirtschaftliche Zusammenhänge (Verflechtungen) auf nationaler und internationaler Ebene betrachtet.

Die Internationale Handelstheorie wird anhand der (fiktiven) Produktion der Länder A (blaue Kreise) und B (gelbe Dreiecke), je nach deren Möglichkeiten, erklärt. Tauschen/handeln nun die beiden Länder mit ihren jeweiligen Produkten, so erhält jedes Land beide gewünschte Produkte in höherer Anzahl und zum geringsten Aufwand.

Theoretisches Model bei ausgeglichenen Machtverhältnissen

Blinde Flecken: Die vorliegende Theorie zeigt eine stark vereinfachte Sicht der Dinge und kann nur funktionieren, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Es sind dies gleiche Ausgangspositionen der Länder in Bezug auf ihre Bedürfnisse nach Gütern, ihre Stärke; keine Kontrolle und militärische Macht des einen Landes über das andere. Die gehandelten Güter müssen den gleichen Stellenwert haben, das heißt, es darf nicht das eine ein Grundbedürfnis befriedigen, während das andere ein (entbehrliches) Luxusgut ist. In dem Moment wo das gehandelte Produkt für das eine Land ein wesentliches Gut darstellt, kommt es zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Landes das dieses produziert. Es dient nicht mehr beiden Ländern gleichermaßen und erzeugt Abhängigkeit und Ausbeutung. Dies ist besonders gut bei Handelstransaktionen zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden sichtbar.

Ergebnis wenn durch ungleiche Produktsorten oder Machtverhältnisse ein anderes Austauschverhältnis herrscht.

Weitere blinde Flecken: Es wird nicht über die Notwendigkeit des Schutzes des Landes (Bodens) gesprochen, auch nicht darüber, dass man Menschen in Fabriken ans Fließband stellt und sie dem Land entfremdet, was zu einer Zerstörung der menschlichen Produktivität und Identität führt. Dies führt uns zur Marx´schen Kritik an der Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt durch eine Aufteilung der Arbeitsschritte (Fließbandarbeit, wo jeder nur einen kleinen Arbeitsschritt erledigt). Das fertige Produkt wird nicht mehr gesehen und mit der eigenen Arbeitsleistung in Zusammenhang gebracht, dadurch kommt es zu einer Zerstörung der Identität. Der Mensch sieht sich nicht mehr als Teil des (kreativen) Herstellungsprozesses. Das fundamentale Bedürfnis des Menschen nach Kreativität und Erschaffung (einem schöpferischen Tätigseins) wird zerstört.

Es war jedoch in der industriellen Produktion praktischer und billiger, erforderte eine geringere Qualifikation der Menschen, diese waren dadurch leichter zu ersetzen und damit erhöhte es die Wettbewerbsfähigkeit. Auch die Aufteilung in körperliche und geistige Arbeit und die dadurch entstehende Aufspaltung der Menschen in zwei Klassen, Arbeiter und Angestellte (white-collar and blue-collar workers) war damit geschaffen.

Ein weiterer Punkt war das komplette Ignorieren der Subsistenzwirtschaft, also einer Wirtschaftsform der Selbstversorgung, die jenseits des monetären Zyklus´ existiert. Selbst heute leben noch rund zwei Milliarden Menschen in Subsistenzwirtschaft.

Das Say´sche Theorem geht auf Jean-Baptiste Say und James Mill zurück und formuliert den Kausalzusammenhang zwischen den volkswirtschaftlichen Größen Angebot und Nachfrage. Es ist ein entscheidender Baustein zum Verständnis der modernen angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Die Frage nach den Rücklagen/Ersparnissen wurde allerdings vorerst ausgeklammert, später jedoch (theoretisch) in den Investitionskreislauf integriert. Allerdings entspricht dies nicht der Realität, da nicht direkt die Ersparnisse der Menschen für Investitionen verwendet werden, sondern eigens dafür Geld geschöpft wird, in dem Moment, in dem ein Kredit in Anspruch genommen wird.

Auch dazu gibt es noch weitere blinde Flecken: Außer Acht gelassen wurden hier die Mechanismen, entstehend über Preis und Nachfrage, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt (durch veränderte Nachfrage entsteht Arbeitslosigkeit, da dieser oder jener Sektor/Produkt plötzlich nicht mehr gebraucht wird). Es kommt, anders ausgedrückt, zu einem Überangebot an Arbeitskräften, auf der anderen Seite zu Ausbeutung und Kinderarbeit was uns in weiterer Folge auch zum Thema der Ausbeutung der Frauen und damit zum feministischen Gedanken führt.

Zusammengefasst könnte man sagen, dass eine „in vitro“ ersonnene (Wirtschafts-)Theorie den Faktoren und Parametern „in vivo“ nicht gerecht werden kann und es zwangsläufig zu sogenannten „blinden Flecken“ kommen muss.

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