Samarkand oder die Trauma Dämonen

Dieser Artikel ist eine sehr persönliche Wiedergabe einiger Aspekte aus dem Buch Samarkand von Olga Kharitidi sowie meiner eigenen Erfahrungen. Ich möchte gleich vorwegschicken, dass dies KEINE Entschuldigung für die grausamen Taten einzelner Menschen darstellen, sondern lediglich eine mögliche Erklärung sein soll. Der Mensch hat den freien Willen der Entscheidung und kann – zumindest theoretisch – immer zwischen einem heilsamen und einem zerstörerischen Weg wählen. Um es mit biblischen Worten auszudrücken: Der Mensch hat immer die Wahl zwischen Gut und Böse.

Die Autorin Olga Kharitidi, geboren in Sibirien, arbeitete zur Zeit des heraufziehenden Endes der Sowjetunion als junge Ärztin in einer psychiatrischen Klinik in Nowosibirsk. Durch mehrere Notfälle an ihrer Klinik, gepaart mit ihrem unbedingten Wunsch, ihre Patienten heilen zu wollen und einiger Zu-Fälle kam sie mit der Welt der indigenen Sibirer und deren schamanischer Kultur und Heiltradition in Berührung. Davon handelt ihr erstes Buch Das weiße Land der Seele. Die betont rationale und auf die dreidimensionale Welt ausgerichtete Schulmedizinerin Olga wird von einer Altai Schamanin, einer uralten Frau, wie sie diese beschreibt, in eine ihr völlig fremde Welt gestoßen. Nicht nur gerät dadurch ihr Weltbild aus den Fugen, es wird auch ihre schwerkranke Freundin, deretwegen sie sich mitten im Winter auf die Reise ins unwirtliche Altai-Gebirge wagt, geheilt. Sie erfährt neue Dimensionen des Bewusstseins und mehrere tausend Jahre alte Methoden der Heilung.

Der einmal eingeschlagene Weg der Selbsterkenntnis und -heilung führt sie jedoch weiter nach Samarkand, wo sie Michael trifft, von dem nicht ganz klar ist, ob er ein sehr weit entwickelter Mensch oder ein geistiges Wesen aus einer anderen Dimension ist. Als ihr Fremdenführer vermittelt er ihr die jahrtausendealte Geschichte Samarkands mit ihren geistig-spirituellen Hintergründen.

Michael zeigt Olga die uralte Ruinenstadt Afrasiab, einstmals Hauptstadt und Vorläuferstadt des heutigen Samarkand in Usbekistan, an deren nordöstlichem Rand sich ihre Reste befinden. Er lässt sie Geschichte und Mythologie dieses Ortes nicht nur erzählerisch erfahren, sondern versetzt sie in eine andere Zeit-Raum Realität, sodass sie einen unmittelbaren Zugang zu den lange vergangenen Geschehnissen bekommt. Er erzählt ihr jedoch auch die Historie dieses mystischen Ortes, denn so sagt er, im Erzählen der alten Geschichten liege die Kraft der Heilung und Transformation.

Die Seelen unserer Urahnen müssen wieder erweckt werden, um die Erinnerung der heute Lebenden zu verändern.

Michael

Afrasiab, so führt Michael weiter aus, sei nicht nur der Name der einstigen Stadt, sondern auch der ihres ersten Herrschers gewesen, zu einer Zeit, die das Goldene Zeitalter genannt wurde, in der die Welt noch eins war. Er diente seinem Gott mit Mut und Hingabe, dafür erhielt er große Macht und Weisheit. Sein Gott war die lebenspendende Große Mutter Anachita. Und dennoch begann mit ihm – jedoch nicht durch ihn – die Geschichte des Traumas an diesem vermutlich ältesten besiedelten Ort der Welt.

Olga kann spüren, wie das Trauma, ausgelöst durch Neid und Hass eines Menschen auf dessen Bruder, der „erfolgreicher“ im Leben war, jener andere aber immer nur der „Zweitbeste“ blieb, an diesem Ort gespeichert wurde und dadurch weiterlebte. Es blieb jedoch nicht nur an diesem einen physischen Ort haften – obwohl da ganz besonders – sondern fand auch Eingang in die DNA der Menschen, die als Erinnerungsspeicher dient. So verbreitete sich das Trauma zusehends über die ganze Welt und erfasste die gesamte Menschheit.

Hass und Neid hatten sich erstmals an diesem Ort und in den Menschen festgesetzt – damit war das Goldene Zeitalter zu Ende – und die Spaltung der Menschheit nahm ihren Anfang.

Darauf hatte der einstige Neid- und Hasserfüllte gewartet, konnte er doch erst jetzt Vergeltung üben. Zwar nicht eigenhändig, jedoch durch den an Generationen seiner Nachkommen weitergegebenen Strom der Erinnerung an Zorn, Angst und Schmerz. Der Dämon suchte – und fand – wiederum einen Ort, an dem er sich festsetzen konnte. Es war dies ebenfalls ein „Zweitbester“, bei dem er seine Wirkung zu entfalten begann, noch zerstörerischer als beim ersten Mal. Das Trauma, das Böse, der Kampf hatten nicht nur das Gedächtnis des Einzelnen, sondern auch das kollektive Gedächtnis verletzt. Gräueltaten, Kriege und Gemetzel überzogen Afrasiab und in Folge die ganze Welt. Und die Geschichte wiederholte sich, immer und immer wieder.

Michael erklärt Olga diesen Prozess so, dass mit fortschreitender Zeit das Geschehene (Demütigung, Erniedrigung, Schmerz, Ohnmacht) vergessen wurde, es aber als Erinnerungsdämon in den Menschen weiterwirkt.

Bei einigen Richtungen der heutigen Psychotherapie ist ebenfalls bereits bekannt, dass Traumata unbewusst über viele Generationen weitergegeben werden, OHNE, dass das Geschehen erinnert wird oder werden kann. Genau das ist jedoch das Problematische daran, weil das Ursprungsereignis NICHT identifiziert und somit auch nicht gelöst werden kann. Das gilt insbesondere auch in Europa für die große Anzahl der Menschen mit Kriegstraumata aus den beiden Weltkriegen, die bis heute in vielen von uns unerkannt weiterwirken.

In der alten Tradition Samarkands waren diese Mechanismen bereits wohlbekannt.

Die Traumata vergangener Generationen leben in ihren Nachkommen fort.

Michael

Je größer die Angst eines Menschen ist, die er in seinem Inneren verspürt, desto mehr verletzt er andere. Je mehr ein Mensch verletzt wurde, diese Erfahrungen jedoch nicht als einen Teil seiner selbst akzeptiert, sondern abspaltet und vergessen will, desto eher schlägt der Dämon zu, besetzt diesen Menschen und lebt von seiner Energie. Dadurch entsteht eine Lücke im Gedächtnis – die jedoch von nun an immer als Angst empfunden wird. Doch damit beginnt ein fataler Kreislauf von Angst und Verletzung.

Es ist von Opfern schweren Missbrauchs, Kriegsgeschehnissen u.ä. hinlänglich bekannt, dass sie sich, auch wenn sie wollten, nicht mehr an das eigentliche verstörende Ereignis erinnern können, da es im Moment des Geschehens zu einer Abspaltung kommt. Dies ist zwar ein Überlebensmechanismus, entwickelt sich jedoch mit der Zeit nicht selten zu einer massiven Blockade im Leben die mit Zuständen wie Ängsten und Depressionen einhergehen kann.

Häufen sich solche Erfahrungen, werden sie zum Nährboden eines Subjektes das “Trauma Dämon” genannt wird. Dieser erzeugt weiteres Trauma und sorgt auch dafür, dass die Menschen vermeiden, sich ihre Traumata anzuschauen und sie zu lösen.

Ich habe in meiner Ausbildung von meinem Lehrer oft gehört, dass sich nach einem Schock oder einer erfolgten Traumatisierung ein sogenannter energetischer Traumakörper ausbilden kann – er hatte diesen jeweils in den Umrissen eines plumpen Männchens gezeichnet, in etwa so, wie heute Aurabilder grafisch dargestellt werden, nur etwas “figurbetonter” – der dann beginnt ein „Eigenleben“ zu führen, dem Menschen Energie raubt (es ist die Energie, die das Körpersystem dazu benötigt, um das Geschehene “unten zu halten”, zu verdrängen) und ihn beispielsweise Entscheidungen treffen lässt, die seinen eigenen Wünschen entgegengesetzt sind. Wir haben dazu sogar einen Fragebogen entwickelt in dem die Frage vorkam: „Treffen Sie oft Entscheidungen, tun dann jedoch das Gegenteil davon?“ Dies ist NICHT mit Schizophrenie zu verwechseln, dabei handelt es sich um ein gänzlich anderes Krankheitsbild!

Anhand der Lebensgeschichten historischer Figuren wie Alexander dem Großen und Dschinghis Khan veranschaulicht Michael Olga die Entwicklung der Trauma Dämonen und ihrer Wirkung im Menschen. Aus den Narben schrecklicher Kindheitserlebnisse entsteht eine Persönlichkeit, die irgendwann einmal, konfrontiert mit der Erinnerung an die damaligen Geschehnisse – etwa durch ein Bild, ein Wort oder einen Menschen – kippt und zum Schlächter wird, der im Blutrausch alles was ihn an diese quälenden Bilder erinnert, für immer auslöschen will, um nie wieder diesen Schmerz spüren zu müssen. Solche Menschen werden zu Repräsentanten des Traumas. Sie WERDEN zu Erinnerungsdämonen.

Sie sollen wissen, Olga, dass im Geschichtenerzählen eine unglaubliche Macht liegt. Manchmal können Menschen von den tiefsten Verletzungen geheilt werden, alleine dadurch, dass sie davon berichten (…) und dass die Geschichten unserer Träume die tiefste Heilung bewirken können.

Michael

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