Fünf Jahre lang habe ich in Nepal gewohnt und gearbeitet. Es war eine gleichzeitig harte wie auch sehr reiche Zeit: geprägt von materiellen Entbehrungen einerseits und von großem Beziehungsreichtum andererseits. In diesen fünf Jahre gab es unzählige kleine und große Erlebnisse, die meine Perspektive auf die Welt im wahrsten Sinne transformiert haben. Ich durfte ein radikal anderes Weltbild aus nächster Nähe erleben und habe in vielen Einzelgesprächen gelernt, das unbewusst Sozialisierte in mir (und meiner Herkunftskultur) zu hinterfragen. Plötzlich waren da diese Fragen, die viel tiefer gegraben und weiter geblickt haben – etwa: Welche Rolle spielt Geld in menschlichen Beziehungen? Wie werden Dinge in Regionen geregelt, in denen es zu wenig Geld gibt? Wie sieht es um das Gemeinwohl einer Region aus in der Lebensgrundlagen wie Nahrung ausschließlich selbst produziert werden und nicht oder nur sehr limitiert über Supermarkt-Lieferketten verfügbar sind?
Ich hatte in Nepal außerdem das Privileg, gemeinsam mit dem Yunus-Center aus Bangladesh eine Förderstelle für soziale Jungunternehmende aufzubauen. Soziales Unternehmertum stellt nach Yunus eine vierte Säule der Gesellschaft dar, neben den profitorientierten Unternehmen, dem Staat und den gemeinnützigen Vereinen. Ähnlich den Vereinen ist ein soziales Unternehmen auf die Lösung eines sozialen Problems ausgerichtet. Gleich wie ein Betrieb jedoch werden die Kosten über den Umsatz von Produkten und Dienstleistungen gedeckt.
Im Zuge dessen bekam ich mehrmals die Möglichkeit, mich mit dem Nobelpreis-Laureaten Prof. Mohammed Yunus persönlich über das Thema Soziales Unternehmertum zu unterhalten. Dies war sozusagen mein Einstieg in die Thematik “Alternatives Wirtschaften”. Seit einigen Jahren unterrichte ich hier in Österreich nun Soziales Unternehmertum und Nachhaltigkeit an der FH Kufstein. Und auch wenn ich viele Antworten bereits gefunden habe, werden die Fragen mit jeder Vorlesung, die ich vorbereite, eher mehr als weniger!
Komplexitätstheorie und Systemisches Denken
Erst nachdem ich Bücher zu Komplexitätstheorie und über Systemisches Denken gelesen hatte, habe ich zweierlei verstanden: einerseits den Prozesse, dass es Strukturen gibt, die unser Verhalten verändern, und wir durch unser Verhalten aber auch neue Strukturen erzeugen. Die meiste Zeit erfolgen diese beiden Prozesse unbewusst. Um eine Veränderung anzustoßen, ist es wichtig, diese zuerst sichtbar zu machen, um anschließend an Schlüsselpunkten intervenieren zu können. Andererseits habe ich aber auch begriffen, dass komplexe Systeme weder vorhersehbar noch planbar sind. Durch Beobachtung kann man zwar Muster erkennen und mögliche Tendenzen ableiten – das genaue Ergebnis einer Veränderung lässt sich jedoch erst verstehen, wenn man es ausprobiert hat.
Unsere Werte formen unsere Institutionen, unsere Institutionen formen unsere Organisationen… und unsere Organisationen wiederum unser Verhalten. Unser Verhalten jedoch legt wieder den Grundstein für die Werte und Haltungen, die wir haben. Eine ewige Dynamik. Für mich ist diese Dynamik umso spannender, weil ich mich immer wieder gefragt hatte, warum Soziales Unternehmertum ein Randbereich bleibt, wo doch so viele Menschen willens sind, etwas Gutes für die Gesellschaft zu tun. Schnell habe ich ein paar Schlüsselelemente ausgemacht, auf die ich immer dann gestossen wurde, wenn ich ein Problem systemisch zu analysieren begonnen habe. Eines davon war das Geldsystem:
Mein Interesse am Geldsystem
Irgendwann war ich über ein Video von Bernd Senf zum Thema Umverteilung gestolpert, in dem er die Umverteilungsproblematik des Zinses beschreibt. Der Ausschnitt, den ich damals gesehen habe, startete bei 2:52:00 des nachgeführten Videos.
Ich war gefesselt und fasziniert, von dieser ach so einleuchtenden Einsicht, dass es hier ein System gibt, welches eine versteckte Umverteilung vornimmt. Und zwar eine um ein Vielfaches (!) größere Umverteilung als das durch den Sozialstaat Richtung “bedürftige, ärmere” Schichten geschieht. Also war mein Interesse geweckt, wie das Geldsystem sich auf die Nachhaltigkeit tatsächlich auswirkt.
Bald verstand ich, dass es noch weitere Dynamiken gab, wie etwa den durch Zinseszins verursachten Wachstumszwang, der die Menschheit als ganzes immer wieder dazu bringt, die Natur oder zwischenmenschliches zu Geld zu machen.
Forum Seitenstetten 2019
Ich las, recherchierte und fasste meine Fragen und Recherche-Ergebnisse im Rahmen meiner Wahlvorlesungen zusammen. 2019 wurde ich dann durch einen Freund auf das Forum Seitenstetten aufmerksam. Das Forum fand am selben Wochenende statt wie meine Blockvorlesung. Dennoch hatte ich mich entschlossen, noch am Samstagabend anzureisen und um zumindest das Ende der Veranstaltung zu erleben und das Team persönlich kennenzulernen.
Nun verstand ich aufgrund meiner ersten Berufskarriere die Grundlagen sehr gut, die notwendig sind um eine Webseite zu betreiben. Gleichzeitig fehlte dem Seitenstettner Kreis aber genau diese Kompetenz. Also bot ich an, mich diesbezüglich ehrenamtlich einzubringen.
Und seitdem macht es mir echte Freude, mit dem Seitenstettner Kernteam gemeinsam an der Weiterentwicklung unserer Mission zu arbeiten und mich immer weiter in die Thematik zu vertiefen. Auch wenn wir nicht alle dasselbe Weltbild haben, lerne ich inhaltlich viel von den anderen im Kernteam sowie von den ganzen Interviews, die ich führen darf. Außerdem finde ich es spannend, mich auf Augenhöhe und mit viel Respekt mit Expertinnen und Aktivisten außerhalb meiner Bubble auszutauschen.
Ich vertiefe mein Wissen mit jeder Woche und gebe dies nicht nur an meine Studentinnen und Studenten, sondern auch an andere interessierte Gruppen gerne weiter, wie zuletzt im Rahmen eines Vortrags mit dem Titel “Welche Systemischen Schrauben können unser Geldsystem ökologisch und sozial fairer machen?”
Blick in die Zukunft
Ich bin und bleibe eine unverbesserliche Optimistin: Ich sehe in den Entwicklungen der letzten Monate ein Fenster der Möglichkeiten. Ein weit offenes Fenster der Chance zur weiteren Noogenese – also zur Weiterentwicklung allen Lebens auf dem Planeten hin zu einer regenerativen Form des Seins. Aus der Forschung von Clare Graves – heute besser bekannt als Spiral Dynamics wissen wir, dass sich Systeme, die ins Wanken geraten, entweder weiterentwickeln (globales Bewusstsein) oder in einen vorhergehenden Status zurückfallen (Hierarchie). Beide Bewegungen lassen sich momentan global beobachten – es bleibt demnach spannend, welche der beiden schließlich an Dominanz gewinnen wird. Aber getreu dem Motto aus der Medidation Energy Follows Attention fokussiere ich mich lieber auf das Gute, das im Entstehen ist, als auf die Bedrohungen, die uns von der guten Zukunft – die am Horizont schon aufscheint – abhalten könnten.
In diesem Sinne freue ich mich nun auf die nächsten Monate, in denen wir einerseits beim Markt der Zukunft dabei sein werden, und andererseits auf hoffentlich noch viele spannende Interviews, die wir noch machen dürfen. Und natürlich hoffe ich darauf, viele von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser unseres Newsletters, nächstes Jahr persönlich in Seitenstetten kennenzulernen.
Liebe Inge,
hervorragende Analyse und verschiedene Lösungsansätze! Mir gefällt das sehr gut.
Danke!
Rudi
Danke Du offene Systemikerin mit der ich in Kontakt sein darf … und von der ich viel lernen kann …