Die Notwendigkeit, miteinander in einen friedensfähigen Dialog zu treten, scheint derzeit täglich an Wichtigkeit zu gewinnen. Im November durften wir dazu einem spannende Philosophikum mit Otto Frühbauer beiwohnen. 2019 stolperte ich über das Buch “Designing Regenerative Cultures” von Daniel Christian Wahl, das mir einen Schatz an Werkzeugen und Konzepten schenkte, welche mir halfen, gewisse Konflikte aber auch Potentiale unserer Zeit besser zu verstehen.
Eines dieser Konzepte ist das Rahmenwerk der 3 Horizonte die ursprünglich von dem in Schottland angesiedelten International Futures Forum entwickelt und später auch publiziert wurde. Dieses habe ich im April 2020 schon einmal in meinem Artikel: Die Kunst, den Dialog zu fördern vorgestellt. Da wir während des Treffens des Kernteams des Forum Seitenstetten im November wieder darauf gekommen sind, möchte ich die Idee hier noch einmal aufgreifen.
Wellenförmige Entwicklungen
Das Rahmenwerk der 3 Horizonte geht von der Annahme aus, dass sich Paradigmen in Gesellschaften wellenförmig entwickeln. Was heute mit ein paar innovativen Nischeninitiativen beginnt, kann ein paar Jahren später das dominante Paradigma sein, eine Dekade später bleiben möglicherweise noch ein paar essentielle Aspekte davon bestehen, alles in allem dominiert jedoch schon ein neues Paradigma.
Natürlich entspricht das einem “idealtypischen” Ablauf, in welchem im jeweiligen Kontext unterschiedliche Lösungen gefordert sind. Im Feudalismus war die Gesellschaftsstruktur mit Lehensherren hilfreich und wurde anschließend durch ein goldbasiertes Geldsystem abgelöst, welches wiederum vom Fiat Geld abgelöst wurde. Das Fiat Geld entsprach – aus der Perspektive zur Zeit von Bretton Woods, H3. Als sich dann die Probleme des Bretton Woods Systems (in den 1960er H1) abzeichneten, wurde Fiat Geld zu H2 und mittlerweile hat es sich zum problembehafteten H1 entwickelt.
Wahrnehmung der aktuellen Herausforderung aus verschiedenen Horizonten
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, aktuelle Herausforderungen zu betrachten. Die Managerperspektive sieht in erster Linie H1 und denkt aus dieser Perspektive welche Prozesse und Funktionen das aktuelle System erfüllt. Was würde zusammenbrechen, wenn dies nicht mehr so wäre? Der Bankdirektor der lokalen Kleinbank sieht den Finanzierungsbedarf lokaler Betriebe oder kleiner Häuselbauer und kümmert sich innerhalb des bestehenden Paradigmas darum, dass diese Funktionen erhalten bleiben. Probleme im aktuellen System werden teilweise wahrgenommen, aber die Wahrnehmung der aktuellen Funktionen – und Sorgen bezüglich der Konsequenzen, sollten diese wegfallen – überwiegen. Was würde passieren, spuckten morgen die Bankomaten kein Geld mehr aus? Wie können wir den aktuellen Sozialstaat finanzieren? Wie können wir sicherstellen, dass Patienten adäquat behandelt werden? Wie können sich Familien im jetzigen System eine gesunde Ernährung leisten?
Einen starken Fokus auf H3 findet man bei Visionären. Ihre Gedanken und Ideen liegen auf einem totalen Paradigmenwechsel. Sie können sich bessere Visionen für die Zukunft vorstellen und versuchen diese über Pionierarbeit umzusetzen. Es gibt “Inseln” möglicher “Zukünfte” im Jetzt, wo man mit neuen Werten, neuen Formaten und neuen Ideen experimentieren kann. Michael Tellinger, der daran arbeitet eine Ubuntu-Stadt aufzubauen, Franz Hörmann, der unermüdlich über das Ende der Tauschlogik und den Übergang in das System des Info-Moneys spricht sowie Margret Baier und Bernd Hückstädt, die mit unzähligen Aktivitäten zu GRADIDO versuchen, Visionen in die Köpfe der Menschen zu bringen, wären Beispiele dafür.
Exkurs – Visionen aus Sicht der Komplexitätstheorie
Aus der Komplexitätstheorie wissen wir, dass Visionen sehr vielfältig sein können. In meinem Umfeld, aber auch im Netzwerk des Forum Seitenstetten, teilen viele Visionäre ähnliche Visionen auch wenn sich die Vorstellungen über Details oftmals unterscheiden. Ein mehr an Miteinander, eine Re-Lokalisierung von vielem bei gleichzeitiger verbesserter internationaler Koordination, Bedarfsdeckung im Einklang mit natürlichen Prozessen, eine Revitalisierung der Demokratie, respektvolles und friedliches Miteinander von Diversität, um nur einige Aspekte aus meiner Perspektive gemeinsamer Nenner zu erwähnen. In der Grafik würde ich dies als Paradigmenwechsel A bezeichnen. Natürlich gibt es aber auch andere Visionen, welche anderen Erzählsträngen einer Vision folgen: Höhere Digitalisierungsraten, Algorithmen und KI, die die Welt steuern, virtual reality, “verbesserte” Menschen und Unsterblichkeit, wie Yuval Noah Harari in seinem Buch Homo Deus beschreibt. Dies wäre ein Paradigmenwechsel B. Aus heutiger Perspektive sieht es oft so aus, als wären diese beiden Visionen inkompatibel.
Aus Sicht der Komplexitätstheorie emergieren neue Variable an der Oberfläche. Energie, die zuvor im alten Regime gebunden war, wird freigesetzt und reorganisiert sich – anfangs chaotisch, doch nach und nach manifestieren sich erkennbare Muster. Bis dahin bleibt es jedoch offen, ob und welche Beziehungen und Netzwerke sich neu bilden und welche Muster sich dann herauskristallisieren. Vor allem bei langen Zyklen lässt sich eine Fluktuation nicht von einem beginnenden Regimewechsel unterscheiden. Es ist mathematisch nicht möglich zu berechnen, ob der Wechsel zu Paradigma A oder B wahrscheinlicher ist. Es kann auch sein, dass es Variable gibt, die uns bisher verborgen geblieben sind und die nach einem Regimewechsel beide scheinbar inkompatiblen Paradigmen in einem neuen Feld der Möglichkeiten miteinander vereinen. Ich jedenfalls übe mich in dieser Hinsicht lieber in unwissender Demut 😉
Synergien und Konfliktpotential zwischen H1 und H3
Nun zurück zu den drei Horizonten. Menschen, die in H1 verhaftet sind, nehmen H3 (egal welcher Natur) oft als irrelevant oder Spinnerei wahr. Im besten Fall werden Visionen ignoriert, im schlimmsten Fall bekämpft, weil sie eine (ideologische) Bedrohung für das aktuelle System darstellen. Wenn keine Bedrohung für H1 wahrgenommen wird, kann H3 auf H1 aber auch hoffnungsspendend wirken. Aus der Perspektive von Jemandem in H3, sind H1 Aktivitäten fehlerhaft und auf mangelnde Verantwortung zurückzuführen. Sie blockieren den Fortschritt. Gleichzeitig nimmt er in H1 aber auch viel Potential wahr und möchte wertvolle Errungenschaften daraus bewahren. So könnte jemand aus H3 das Bankensystem komplett revolutionieren wollen, aber dennoch z.B. die Infrastruktur mit Filialen und Bankomaten behalten wollen, da diese auch in einem neuen Paradigma noch gute Dienste leisten würden.
Horizont 2 – die Changemaker
Der zweite Horizont ist der Horizont der “Entrepreneurs”, der innovativen Unternehmer, die die Gelegenheiten nutzen, neue innovative Ansätze einzuführen und aktuelles Potential umzusetzen. Diese bewegen sich in einem Paradigma, das vor kurzem noch H3 war und in Zukunft (vermutlich) H1 sein wird. Riskantere Projekte werden umgesetzt, jedoch mit mehr Kompromissen für das aktuelle dominante System als bei Pilotprojekten von H3. Gewisse H2 Aktivitäten machen dabei sehr viele Kompromisse (H2-) und sind dabei noch stark dem H1 Paradigma zugewandt. Ein Beispiel wäre hier eine Regional- oder Komplementärwährung, wie der WIR oder der Chiemgauer, die zwar bereits ein stückweit alternativ, trotzdem jedoch noch gängige Geschäftsprozesse unterstützen. Andere Ideen (H2+) sind schon mehr nach H3 ausgerichtet, wobei sie “praktisch” bleiben wollen. Zeitbanksysteme wie die Tiroler Talente oder mitgliedergeführte Food-Coops sowie Solidarische Landwirtschaften wären für mich Beispiele für H2 Aktivitäten. Diese sind riskant aber die meisten wären vermutlich auch mit einem Paradigmenwechsel in der Zukunft Richtung UBUNTU, GRADIDO & Co. kompatibel.
Auch zu diesen unterschiedlichen Zugängen gibt es wiederum sowohl positive als auch negative Wahrnehmungen der Menschen aus den verschiedensten Horizonten. Ein Manager zieht aus den Ansätzen aus dem zweiten Horizont sehr wohl Ideen, wenn diese ihm auch oft zu riskant erscheinen. Gleichzeit sieht ein Entrepreneur H1 als Quelle der Unterstützung an, gleichzeitig aber auch als Grund für Hindernisse (z.B. bürokratischer Natur). Auch H2 und H3 stehen in einem ähnlichen Wechselspiel miteinander, das auf der positiven Seite zwischen Alliierten und Inspiration resoniert, sich aber gleichzeitig auch in Ärger von H2 über die unpraktikablen Ansätze von H3, und H3s Unverständnis für die von H2 gemachten Kompromisse ausdrückt.
Horizonte bewusstmachen entschärft Konflikte
Sich diese unterschiedlichen Position in einem Gespräch mit “Andersdenkenden” wieder ins Bewusstsein zu rufen, kann helfen, den anderen für die positive Rolle, die er übernimmt (sicherstellen, dass heute alles funktioniert, Hoffnung schenken oder sich an den riskanten Brückenbau zur Zukunft zu wagen) zu schätzen ohne gleichzeitig seinen eigenen Standpunkt aufgeben zu müssen. Der komplexe Blick auf die sich wellenförmig ausbreitende Zukunft, erlaubt es uns dort eine Rolle einzunehmen, wo wir uns engagieren wollen und dann als Gruppe oder Gesellschaft gemeinsam den Weg durch die Wellen zu nehmen.
Ich frage mich oft, wie ein Dialog wohl aussehen würde,
- wenn alle Manager dabei ihre Angst vor dem Loslassen abträglicher Aspekte aufgeben könnten?
- wenn alle Visionäre die Vorteile des aktuellen Systems wertschätzen könnten und sich in Geduld übten?
- wenn alle Entrepreneurs ihren Fokus auf die Inspiration von H3 richten und die Herausforderungen die H1 stellt, als konstruktive Reibung wahrnehmen könnten?
Was denken Sie? Wie würde sich unsere Kommunikationskultur ändern, würden wir das schaffen?