Vortrag beim Schweizer Kongress Mut zur Ethik 2. – 4. Sept. 2022
Ich komme wieder zum Generalthema: „Europa, welche Zukunft wollen wir?“, zurück. Aber zuerst gestatten Sie mir, dass ich im Anschluss an Leo Hensel noch eine Bemerkung mache. Ich hatte einen Onkel, der Atomphysiker war und mit Erwin Schrödinger gemeinsam studiert hat. Als diese gemeinsam im Ersten Weltkrieg bei der Küstenartillerie in Miramare eingesetzt waren, haben sie über die Möglichkeit der Atomspaltung und deren Missbrauch debattiert. Onkel Ferdinand ist dann angesichts dieser Bedrohung Priester geworden. Er hat gesagt, zuerst muss die Wertordnung stimmen, und erst dann können wir dieser Technik nähertreten. Das wollte ich noch hinzufügen.
Ich möchte beginnen mit einem Satz von Jacques Delors, der gesagt hat, wir müssen in Europa Wege an der geistigen Basis gehen, damit es überlebt: „Wir müssen Europa wieder eine Seele geben.“ Daher fange ich schlicht in Gottes Namen an, denn wir befinden uns derzeit in einem verwirrenden Pluralismus der Meinungen, gepaart mit der Meinungsdiktatur der Herrschenden.
Der deutsche Philosoph Norbert Bolz hat das so formuliert: „Unsere großen Probleme resultieren nicht aus einem Mangel an Wissen, sondern an Orientierung. Wir sind konfus, nicht aber ignorant.“
Orientierungswissen
Wenn wir uns dem Problem annähern, müssen wir einen Drei-Schritt machen, vom Orientierungswissen über das Zielwissen zum Handlungswissen. Was das Orientierungswissen für die Neugestaltung des Hauses Europa betrifft, so denke ich, dass die Humanbiologie uns wesentliche Hinweise gibt. Der Nobelpreisträger Sir John C. Eccles und der Schweizer Biologe Hans Zeier haben in ihrem Buch „Gehirn und Geist – Biologische Erkenntnisse über Vorgeschichte, Wesen und Zukunft der Menschen“ schlüssig dargelegt, dass wir auf kleine überschaubare Einheiten ausgelegt sind. Der Philosoph und Ökonom Leopold Kohr hat dies in die Forderung gebracht, gesellschaftliche Strukturen nach dem Maß des Menschen zu schaffen.
Die Geschichte zeigt auch, dass alle Großreiche, trotz perfekter militärischer Gestaltung, an der Bürgerferne zerbrochen sind.
Zielwissen
Was ergibt sich daher als Zielwissen? Es ist die intelligente Dezentralisierung und Vernetzung statt dem Wegsparen der kleinen Einheiten, wie dies derzeit geschieht. Ich denke hier an das Wegsparen von Eisenbahnen, Schulen, Polizeistationen, Bankfilialen etc.. Eccles und Zeier haben dies wie folgt kurz formuliert: Verzicht auf eine nur kurzfristig effiziente weitere Entflechtung der Funktionen in Landwirtschaft und Industrie, sowie Wiederherstellung dezentralisierter, funktionell verflochtener, sozial befriedigender Kleingesellschaften mit überschaubaren Machtstrukturen und Kommunikationsnetzen. Erhaltung statt Zerstörung lokaler Kulturen.
Ich habe in meinem Buch „Empörung in Europa“ die künftige Rolle Europas in Analogie zur Rolle der alten Griechen vorgeschlagen, nämlich ein Aufstehen für Europa als Licht der Welt, föderal, vielfältig, rechtsstaatlich, tolerant, solidarisch, gebildet, sowie vor allem die Würde der Person achtend und die Menschenrechte verwirklichend.
Vor allem muss Europa zu seinem inneren Kompass, zu seinen christlich-griechisch-jüdisch-lateinischen Wurzeln zurückfinden. Die tonangebenden Eliten haben sogar verhindert, dass ein Hinweis auf die christlichen Wurzeln Europas in die Präambel der Verträge über die Europäische Union und ihre Arbeitsweise aufgenommen wurde.
Wo aber werden die Eliten ihre Wertordnungen anbinden? An die wechselnden manipulierten Meinungen? Ich habe immer gesagt, wenn die Moral von der Meinung der großen Zahl abhängt, dann ist der effizienteste Räuber das Ideal in einer Räuberbande.
Wir müssen noch etwas bedenken: Europa ist mit seiner in der Welt einmaligen Ausgestaltung seiner Rechtssysteme und seiner Sozialordnungen, internationales Vorbild.
Dies bewirkt nun den Massenzuzug von unangepassten Migranten, die den Gesellschaftsvertrag nicht mehr mittragen.
Die europäische Gesellschafts- und Rechtsordnung ist in Wirklichkeit säkularisiertes Christentum, das haben wir vergessen. Wir landen daher in der gegenwärtigen Orientierungslosigkeit, in der wir wechselnd irgendwelche europäische Werte propagieren.
Handlungsmaxime
Welche Handlungsmaximen ergeben sich nun aus dem Orientierungs- und Zielwissen? Statt in Großmannssucht in Waffen und Interventionen zu investieren, sollten wir die dezentralen Infrastrukturen erhalten und weiter ausbauen. Die Geldschöpfung sollte wieder in die nationalen Hände übertragen werden, denn die Währung ist quasi der Maßanzug für die jeweilige Volkswirtschaft. Statt die vier Freiheiten (Kapital, Waren, Dienstleistungen, Personen) über die unterschiedlichen Volkswirtschaften zu stülpen, sollten wir uns der Harmonisierung der Rechtsordnungen und der Sozialsysteme widmen. Die Rechtsordnungen sollten bürgernahe vereinfacht werden und die drei Maximen erkennbar, erfüllbar, erzwingbar erfüllen. Vor allem sollte die Hereinnahme von angloamerikanischen Sonderrechtsordnungen, die einerseits kaum lesbar sind und viele Unsicherheiten enthalten, verhindert werden.
Ich halte Ihnen jetzt die konsolidierten europäischen Verträge hin. Das sind 403 Seiten, die jetzt schon mehr geworden sind. Sie sind für die normalen Staatsbürger kaum lesbar, X Verweisungen hin und her erschweren die Lektüre.
Das heißt, wir haben eine uneinsichtige Rechtsordnung. Wenn wir nun Dinge wie das CETA-Abkommen hernehmen, das über 600 Seiten hat, dann nehmen wir wieder eine übergestülpte Sonderrechtsordnung mit herein, die die rechtliche Unsicherheit fördert. Das heißt, wir brauchen wieder eine vereinfachte, klare Rechtssituation.
Bestimmungslandprinzip
Was den internationalen Handel betrifft, so müssen wir das Bestimmungslandprinzip einfordern. Das bedeutet, du hast nur freien Marktzutritt, wenn du nachweisen kannst, dass die Herstellung deines Produktes, deiner Leistung unter Beachtung vergleichbarer ökologischer und sozialer Standards wie im Bestimmungsland, erstellt wurde. Das ist machbar und kontrollierbar. Wie Österreich noch nicht in der EU war, hat man seitens dieser alles kontrolliert bis zu den kleinen Fleischhauereien und Molkereien, und hat sie zugesperrt, und wir haben das stillschweigend hingenommen. Wenn wir solches aber international fordern, wird sofort gesagt, das sei gegen die Souveränität.
Landwirtschaft
Was die Landwirtschaft betrifft, so sollten wir endlich auf die Vorschläge des IAASTD von 2008 zurückkommen, die Vorschläge „Landwirtschaft am Scheidewege“. Diese besagen, dass die zukünftige Ernährungssicherung auf einer kleinräumigen, am Standort orientierten, eher gärtnerischen Landbewirtschaftung beruhen muss – und auf angepasste Strukturen in Verarbeitung und Vermarktung.
Aber ich denke, dass wir vor allem bei unserer Jugend ansetzen müssen. Unsere Kinder müssen wieder stolz auf ihre europäische Heimat werden, auf seine Philosophen, Staatslehrer, seine polyphone Musik, seine Dichter, die Naturwissenschaftler und Techniker, sowie nicht zuletzt, wie ich schon erwähnt habe, die rechtsstaatlich demokratische Gesellschaftsgestaltung. Wenn wir das nicht tun, sondern in den Schulen lediglich „Kompetenzen“ vermitteln, heißt das, sie zu braven Industriesoldaten ausbilden und sie in den vorgegebenen Konkurrenzkampf hineinstellen. Ein Student hat mir hierzu gesagt: „Herr Professor, uns ist das klar, wir werden zu Gladiatoren erzogen. Der beste Gladiator überlebt, aber die anderen überleben nicht.“ Das heißt, wir müssen hier grundsätzlich neu denken.
Geopolitik
Nun komme ich noch zur Geopolitik: Ich glaube, und das ist durch die ganze Konferenz durchgeklungen. Wir müssen uns vom Vasallentum, vom Noch-Hegemon und von seinen Adepten verabschieden und eine eigene Außenpolitik gestalten, hin zu einer Politik der Achtung des Völkerrechts und der ausgewogenen Non-Alliance, wie es heute schon betont wurde. Damit können wir auch eine neutrale Vermittlerrolle einnehmen.
Das bedeutet, dass wir im gegenwärtigen Proxy-Krieg (Stellvertreterkrieg) der USA gegen Russland in der Ukraine jenen Vorschlägen, die der nicht anwesende Professor Hans Köchler im Rahmen der International Progress Organisation und auch ich beharrlich gemacht haben, zum Durchbruch verhelfen: nämlich die Bündnisfreiheit gegenüber Ost und West, d. h. Non-Alliance, immerwährende Neutralität, föderale Struktur und Anerkennung der Volksabstimmung auf der Krim, sowie beim Misstrauen ihre Wiederholung. Die Volksabstimmung auf der Krim war mindestens so legitim und gut -wenn nicht besser – als die im Kosovo, diese aber wurde sofort anerkannt, weil sie im ‚westlichen Interesse‘ war.
Ich möchte noch etwas hinzufügen. Der Noch-Hegemon USA, das haben wir gestern bei Ritter vor Augen geführt bekommen, ist im Todeskampf, und die Umarmung durch einen Untergehenden ist die gefährlichste. Daher ist es, ein Gebot der Stunde, sich von dieser zu lösen.
Ich möchte zusammenfassen. Wir brauchen ein Europa der Vielfalt der Vaterländer, wie es Charles de Gaulle gefordert hat – eine ‚Verschweizerung‘ der EU. Der ehemalige Auslandskorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karl Peter Schwarz, hat das so formuliert:
„Denn die Schweiz hat gezeigt, wie eine Vielfalt von Sprachen und Religionen in einem Grund zusammenklingen können.“
Karl Peter Schwarz
Daher soll Ihr beharrliches Rupfen in Mut zur Ethik nicht enden. Wenn das Untergangsszenario von William Scott Ritter tatsächlich eintreten sollte, dann ist der dezentrale Schweizer Weg der Überlebensweg. Ich habe das selbst zu Ende des Zweiten Weltkrieges als Kind erlebt. Im Osten war alles zerstört, und wir haben von unten her, von den kleinen Einheiten, wieder den Staat aufgebaut und von oben die Unterstützung bekommen. Ich glaube, mit diesem Schluss, dass wir ein Europa der Dezentralisierung brauchen, und ein Europa, das wieder zu seinen christlichen Wurzeln, zur Orientierung gebenden Wertordnung, zurückkehrt. Danke.